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Russlands KI-Himmelsvideos: Wie Künstliche Intelligenz den Krieg verklärt und Trauer digitalisiert

Russlands KI-Himmelsvideos: Wie Künstliche Intelligenz den Krieg verklärt und Trauer digitalisiert

Oktober 6, 2025
Monika Schmidt
In Russland verbreiten sich KI-Videos gefallener Soldaten, die als digitale Erinnerung dienen. Zwischen Trauer, Patriotismus und ethischer Manipulation.

In Russland hat sich eine neue Form der Trauerkultur entwickelt – angetrieben von Künstlicher Intelligenz. Angehörige gefallener Soldaten lassen von einer 36-jährigen Russin KI-Videos erstellen, in denen die Toten noch einmal „zum Leben erwachen“: Sie winken in die Kamera, sprechen letzte Worte oder steigen auf leuchtenden Treppen in den Himmel. Der Preis: ab 1500 Rubel, rund 15 Euro. Die Nachfrage ist gewaltig – Hunderte Bestellungen täglich, eine Warteliste, die sich über Monate zieht. Das berichtet Renewz.de unter Berufung auf das Exilmedium Meduza.

Vom privaten Experiment zur Massenbewegung

Die Frau, deren Identität anonym bleibt, begann 2023 mit KI-Experimenten auf Basis von Stable Diffusion und Pika Labs. Zunächst erstellte sie harmlose Clips, in denen Menschen ihre jüngeren Ichs trafen. Doch mit Beginn des Jahres 2024 wandelte sich ihr Projekt zu einem emotional aufgeladenen Ritual für Hinterbliebene des Ukrainekriegs. Sie veröffentlichte erste Gratisvideos gefallener Soldaten – und ging damit viral. Innerhalb von zwei Wochen erhielt sie nach eigenen Angaben über 500 Anfragen, viele davon von Müttern und Ehefrauen russischer Soldaten.

Wie die KI die Toten „zum Sprechen“ bringt

Für jedes Video sammelt die Produzentin Bildmaterial, Social-Media-Aufnahmen und Sprachnachrichten der Verstorbenen. Anschließend trainiert sie eine multimodale KI, die aus diesen Daten ein synthetisches Modell erzeugt. Je nach Preis variiert der Grad der „Realität“:

  • Basisversion (15 €): winkende oder lächelnde Figur im Nebel.
  • Erweiterte Version (30–40 €): kurze Sprachnachricht oder Bewegung.
  • Premium (50 € +): Interaktion mit Angehörigen, Flügel-Animation, musikalische Untermalung.

Die Clips dauern in der Regel 30 bis 60 Sekunden. Die Macherin braucht bis zu zwei Tage pro Auftrag – inzwischen beschäftigt sie mehrere Helfer für die Bearbeitung.

Zwischen Trost und Inszenierung

Während viele Familien in Russland die KI-Videos gefallener Soldaten als letzte Verbindung zu ihren Angehörigen betrachten, warnen Ethiker und Medienforscher vor einem gefährlichen Trend. Die Clips, die mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz entstehen, zeigen lächelnde Soldaten, die winken, sprechen oder symbolisch in den Himmel aufsteigen – begleitet von patriotischer Musik und russischen Flaggen. Damit werden Tod und Verlust zu einer digitalen Inszenierung, die nationale Emotionen stärkt und den Krieg ästhetisiert.

Laut Meduza und unabhängigen Beobachtern aus der Ukraine verwandeln diese Videos individuelles Leid in ein kollektives Heldennarrativ. Medienanalysten sprechen von einer „neuen Ära emotionaler Propaganda“, in der KI nicht nur Bilder, sondern auch Bedeutungen erzeugt. Die digitale Trauer ersetzt reale Erinnerung, indem sie den Krieg verklärt und Gefallene zu Symbolen patriotischer Erhöhung macht. So verschmelzen Trost, Technik und politische Manipulation in einem perfiden Zusammenspiel von Emotion und Macht.

Gesellschaftliche Reaktionen in Russland

Die Resonanz auf die KI-generierten Videos gefallener Soldaten spaltet die russische Gesellschaft deutlich. In sozialen Netzwerken wie VKontakte, Telegram und Odnoklassniki werden die Clips millionenfach geteilt und emotional kommentiert. Unter Posts finden sich hunderte Reaktionen von Angehörigen, die in den Videos „einen Funken Trost“ sehen oder den Erstellerinnen danken, dass sie „den Geist der Helden sichtbar gemacht“ hätten. Besonders in prorussischen Militärgruppen auf Telegram wird der Trend als patriotischer Akt gefeiert – als Symbol der „Unsterblichkeit russischer Soldaten“. Einige lokale Medien bezeichneten die KI-Clips sogar als „heilige Kunst des 21. Jahrhunderts“.

Doch gleichzeitig wächst die Zahl der Kritiker. Viele Nutzer beschreiben die Videos als „gespenstisch“ oder „gotteslästerlich“, da sie die Grenze zwischen Leben und Tod verwischen. Orthodoxe Geistliche warnen, die „Wiedererschaffung der Verstorbenen“ durch künstliche Intelligenz verletze religiöse Grundsätze: Nur Gott dürfe Leben geben. Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche äußerten zudem die Sorge, solche Praktiken könnten spirituelle Manipulation fördern und Menschen emotional abhängig machen.

Juristisch bewegt sich die Praxis bislang in einer Grauzone. Russland verfügt weder über ein spezielles Gesetz zur Regulierung von Deepfakes noch über klare ethische Richtlinien für KI-generierte Inhalte im privaten Bereich. Zwar existiert ein Entwurf zum Schutz der „digitalen Identität Verstorbener“, doch dieser steckt seit Monaten in der Duma fest. Medienrechtler betonen, dass ohne gesetzliche Grundlage Missbrauch kaum nachweisbar sei – etwa, wenn Bilder von Toten ohne Zustimmung der Familie verwendet werden.

So zeigt sich in Russland ein ambivalentes Bild: Zwischen patriotischer Verehrung, religiöser Ablehnung und rechtlicher Unsicherheit wird deutlich, dass die digitale Trauerkultur längst zu einem politischen und moralischen Spiegel der Gesellschaft geworden ist – einem Spiegel, der mehr über die Gegenwart sagt als über die Toten selbst.

Digitale Trauer als Spiegel einer gespaltenen Nation

Die Erstellerin selbst betont, sie wolle den Angehörigen helfen, „ihre Liebe sichtbar zu machen“. Sie sieht sich nicht als politische Akteurin, sondern als „Brücke zwischen Schmerz und Erinnerung“. Doch Kritiker wie der Medienforscher Alexei Kusnezow aus Riga sehen darin den Beginn einer neuen emotionalen Ökonomie: „Russlands KI-Videos verwandeln Tod in Daten – und Trauer in ein marktfähiges Produkt.“

Was als persönlicher Trost begann, hat sich zu einem Massenphänomen entwickelt, das tief in das kollektive Bewusstsein eingreift. In einem Land, in dem offene Kritik am Krieg verboten ist, werden nun digitale Himmelstreppen zum Symbol einer Gesellschaft, die den Tod ästhetisiert, weil sie ihn nicht mehr betrauern darf.

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