Polens Arbeitszeit-Experiment: Sechs Stunden arbeiten – volles Gehalt, mehr Leben

Es ist eine Nachricht, die Europas Arbeitswelt aufhorchen lässt: Ab dem 30. Juni 2025 beginnt Polen mit einem staatlich geförderten Pilotprojekt, das die tägliche Arbeitszeit bei vollem Lohn verkürzt. Wer möchte, kann statt acht nur sechs Stunden pro Tag arbeiten, sich ein 3-Tage-Wochenende gönnen oder zusätzliche Urlaubstage nehmen – ganz ohne Gehaltseinbußen. Arbeitgeber, die sich beteiligen, erhalten bis zu 1 Million Złoty (etwa 230.000 Euro) an Fördermitteln vom Staat, berichtet RENEWZ.de unter Berufung auf www.infor.pl.
Ein mutiger Schritt in einem überarbeiteten Land
Polen gehört laut Eurostat und OECD zu den fleißigsten, aber am stärksten belasteten Ländern Europas. Viele Beschäftigte arbeiten deutlich über 40 Stunden pro Woche. Gleichzeitig klagen Unternehmen über zunehmende Burnout-Fälle, hohe Fehlzeiten und sinkende Produktivität. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gilt in vielen Regionen als unzureichend.
Vor diesem Hintergrund will das polnische Ministerium für Familie, Arbeit und Sozialpolitik (MRPiPS) neue Wege gehen: Weniger Arbeitszeit – aber besser genutzt. Das Pilotprojekt ist nicht nur ökonomisches Experiment, sondern auch gesellschaftspolitische Antwort auf demografische Herausforderungen: niedrige Geburtenraten, alternde Bevölkerung, Fachkräftemangel.
So funktioniert der Pilot
Teilnehmen können Unternehmen, Kommunalverwaltungen, NGOs, Stiftungen und Gewerkschaften. Die Teilnahme ist freiwillig, aber an Bedingungen geknüpft:
- Die tägliche Arbeitszeit wird auf 6 Stunden reduziert,
- alternativ: Einführung von 3-Tage-Wochenenden oder
- Zuteilung von mehr Urlaubstagen.
Das Wichtigste: Die Beschäftigten behalten ihr volles Gehalt.
Der Staat übernimmt dabei einen Teil der Umstellungskosten: 10 Millionen Złoty stehen im ersten Jahr zur Verfügung. Förderfähig sind z. B.:
- digitale Zeiterfassungssysteme,
- betriebliche Beratung,
- rechtliche Begleitung bei der Neugestaltung von Arbeitszeitmodellen.
Erste Beispiele zeigen: Weniger kann mehr sein
Bereits heute profitieren erste Regionen und Betriebe von einer verkürzten Arbeitszeit. Die Stadt Włocławek hat für tausende Beschäftigte im öffentlichen Dienst eine 35-Stunden-Woche eingeführt – mit positivem Feedback.
Noch eindrucksvoller sind die Erfahrungen bei Herbapol Poznań S.A., einem großen Unternehmen der Lebensmittelbranche. Dort wurde die 6-Stunden-Tagesstruktur zunächst kritisch beäugt – vor allem von Führungskräften. Doch die Bilanz nach einem Jahr überrascht: weniger krankheitsbedingte Ausfälle, bessere Mitarbeitermotivation, stabile Produktivität. Das Unternehmen erzielte sogar die besten Geschäftszahlen seit über einem Jahrzehnt.
Das Projekt hat einen langen politischen Atem
Das Pilotprogramm ist auf 15 bis 18 Monate angelegt. Anschließend sollen Erfahrungen gesammelt, evaluiert und ausgewertet werden. Bis Ende 2027 will das MRPiPS einen Gesetzesentwurf für die flächendeckende Einführungvorbereiten. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe begleitet den Prozess, wertet branchenspezifische Unterschiede aus und soll Empfehlungen für eine zukünftige gesetzliche Regelung formulieren.
Polen orientiert sich dabei bewusst an internationalen Vorbildern:
- In Frankreich liegt die gesetzlich geregelte Wochenarbeitszeit bei 35 Stunden,
- in Dänemark bei 37 Stunden,
- in Belgien bei 38 Stunden.
Die wirtschaftliche Entwicklung dieser Länder zeigt: kürzere Arbeitszeiten bremsen das Wachstum nicht, sondern fördern im Gegenteil die langfristige Innovationskraft und Lebensqualität.
Was Deutschland davon lernen kann – und was bereits existiert
In Deutschland wird über Arbeitszeitverkürzung seit Jahren diskutiert – aber konkrete staatliche Maßnahmen fehlen. Die gesetzlich zulässige Höchstarbeitszeit beträgt derzeit acht Stunden täglich (§ 3 ArbZG), erweiterbar auf zehn mit Ausgleich. Eine bundesweite Initiative wie in Polen gibt es nicht.
Dennoch existieren vereinzelte Versuche in der Privatwirtschaft:
- Rheingans Digital Enabler (Bielefeld) arbeitet seit 2017 mit einem 5-Stunden-Tag – bei vollem Gehalt. Die Mitarbeiter berichten von höherer Konzentration und größerer Lebenszufriedenheit.
- SMA Solar Technology (Niestetal, Hessen) testete ein 4-Tage-Wochenmodell in der Produktion – mit guten Rückmeldungen von Belegschaft und Management.
- Start-ups in Berlin, Hamburg und München führen intern Modelle mit reduzierter Wochenzeit und hybriden Arbeitsmodellen ein.
Gewerkschaften wie IG Metall oder ver.di fordern seit Jahren eine schrittweise Reduktion auf 28 bis 32 Stunden pro Woche – ohne Gehaltsverlust. Auch Parteien wie die Grünen und die Linke sprechen sich für neue Arbeitszeitmodelle aus. Doch auf Bundesebene bleibt das Thema politisch blockiert – unter anderem aus Angst vor Kostensteigerung, Widerstand von Arbeitgeberverbänden und ungewisser wirtschaftlicher Wirkung. Zudem fehlt eine zentrale Förderstruktur oder ein Fonds, wie ihn Polen jetzt aktiv einführt.
Polen als Impulsgeber für Europas Arbeitswelt
Polen wagt einen politischen und wirtschaftlichen Neuanfang: Die 6-Stunden-Tage mit vollem Gehalt könnten zu einem Modell werden, das Produktivität, psychische Gesundheit und Familienleben neu austariert – ohne dabei die Wirtschaftskraft zu gefährden. Für Deutschland stellt sich die Frage: Wollen wir weiter zuschauen – oder mitgestalten? Die ersten Ergebnisse aus Polen könnten schon 2026 vorliegen. Sie könnten die Debatte auch hierzulande beschleunigen – in einer Arbeitswelt, die sich ohnehin wandelt.
Bleiben Sie informiert! Lesen Sie auch: Feiertage 2025 In Deutschland: Übersicht Für Berlin Und Brandenburg